Vorstellung „La Juive“ am 03.10.2019

Die erste Premiere der neuen Intendanz, durchgängig gute Kritiken, Bravos bei der Premiere – die Vorfreude war bei mir groß. Auch der Dauerregen konnte daran nichts ändern. Meine Erwartungen wurden noch übertroffen – es wurde ein großartiger und bewegender Abend.

„La Juive“ von Fromental Halevy ist eine opulente „Grand Opera“ auf ein Libretto von Eugene Scribe. Sie wurde 1835 uraufgeführt und war eine der erfolgreichsten Opern des neunzehnten Jahrhunderts, bevor sie dann wohl wegen des jüdischer Komponisten und des jüdischen Stoffs von der Bühne verschwand. Erst in den letzten zwanzig Jahren begann die Wiederentdeckung. Da die Oper recht unbekannt ist, werde ich im Folgenden einen Handlungsabriss mit einfließen lassen.

Grundthema der Oper ist die Auseinandersetzung zwischen Mehrheit und Minderheit, dargestellt am Beispiel des Konflikts zwischen Juden und Christen während des Konstanzer Kirchenkonzils von 1414. Es geht um Toleranz und Intoleranz und wie man damit umgeht, ein auch in der heutigen Zeit zentrales Thema.

Die Inszenierung diskutiert diese Grenzen von Entgegenkommen und Offenheit in unruhigen Zeiten auf bestürzende Art und Weise. Das Jahr 1414 ist weit weg, eine sehr historische Aufführung könnte der Aktualität einfach ausweichen. Der Regisseurin Lydia Steier gelang es aber sehr gut, die Konflikte ohne Oberflächlichkeit in unsere Zeit zu holen. Jeder der Akte spielt in einer anderen Zeit, beginnend mit dem Amerika der 1950er Jahre, endend im fünften Akt zur Zeit der Handlung. Wir schauen so durch die Zeiten zurück auf den Ursprung unserer Vorurteile und unserer Intoleranz. Die Vergangenheit hält uns einen Spiegel vor und zeigt uns so unsere häßliche, immer gleiche Fratze.

Diese desillusionierende Botschaft wird nun nicht als karges Lehrstück exerziert, sie drängt sich auch nicht in den Vordergrund. Lydia Steier lässt auch Komik zu und zeigt uns den Stoff im ausladenden, überbordenden Rahmen einer großen Oper. Die Kostümabteilung hat die Visionen von Alfred Mayerhofer grandios umgesetzt. Über 600 verschiedene Kostüme, prachtvolle Ausstattung – zur Botschaft kommt ein umwerfender Schauwert. Man sieht immer neue Kostüme, lässt sich mitreißen – und sieht die Katastrophe gleichzeitig immer näher rücken und den Hass eskalieren. Ein alle Sinne ansprechendes Spektakel transportiert eine harte Wahrheit. Eine Bemerkung von Lydia Steier aus dem Programmheft fasst das wunderbar zusammen: „Ich liebe diese süße
Verführung in Richtung Hölle. Es ist, als wäre das Tor zur Hölle aus Marzipan gemacht.“

Das Bühnenbild von Momme Friedrichs trägt viel zur Wirkung bei. Es wird von einer grauen Wand beherrscht, die auch visuell eine Klammer für diese Zeitreise bildet. Aus ihr werden Tribünen, ja selbst ganze Häuser herausgefahren, Fenster öffnen sich. Dezente Videoprojektionen machen diesen Hintergrund zusätzlich lebendig.

Der erste Akt beginnt ganz einfach, fast nebensächlich, ohne die (gestrichene) Ouvertüre. Zwei kleine Jungen streiten sich am Rande eines bonbonbunten Volksfestes in den 1950er Jahren in den USA. Der eine Junge schlägt immer wieder den anderen, der eine Kippa trägt, der Jude ist. Diese Jungen werden in allen Akten wieder auftauchen, als stumme Zeitzeugen bilden sie die Klammer über die Zeiten hinweg.

Es ist ein christlicher Feiertag, trotzdem arbeitet der Goldschmied Eleazar (Zoran To­dorovich) in seiner Werkstatt. Mit seiner Tochter Rachel (Barno Ismatullaeva) wird er deshalb vom Bürgermeister (Pavel Chervinsky) als Ketzer zum Tode verurteilt. Mit Hass beginnt so die Oper. Hier taucht schon der einem Vogelbauer ähnliche Käfig auf, in dem am Schluss der Oper die Hinrichtung vollzogen wird.

Kardinal Brogni (Shavleg Armasi) begnadigt Rachel und Eleazar. Sein Auftritt ist eine Inszenierung der Mildtätigkeit, aus der Mauer heraus, umgeben von projizierten niedlichen Putten und Gloriolen. Eleazar hasst den Kardinal, der vor langer Zeit seine Söhne auf den Scheiterhaufen gebracht hatte.

Später am Tag schleicht sich Prinz Leopold (Matthew Newlin) zum Haus des Goldschmieds. Er hat eine Liebschaft mit Rachel, gibt aber vor, ein Jude zu sein. Leopold ist hier ein Sonnyboy, ein Weiberheld, ein Elvisverschnitt mit Tolle und Kippa. Er fährt in einem Cadillac-Cabrio vor und singt für Rachel zur Gitarrenbegleitung (so von Halevy komponiert) ein Ständchen. Matthew Newlin singt diese Serenade „Loin de son amie vivre sans plaisirs“ sehr innig und klangschön.

Eine Siegesparade später erweist sich dann später als düsterer Karneval, Wagen mit Folterszenen und Micky Maus als Folterknecht ziehen vorbei. Erneut hetzt der Bürgermeister gegen Eleazar und Rachel, das Volk verlangt ihren Tod. Leopold gelingt es, zusammen mit dem Offizier Albert (Yannick Spanier), das zu verhindern.

Der zweite Akt spielt in der Inszenierung im Deutschland des Jahres 1929. Der Hass zeigt sich immer deutlicher. Ein enger Innenraum fährt aus der Mauer heraus wie eine schützende Wand. Die Juden begehen heimlich das Pessachfest, unter ihnen auch der als ‚Samuel’ verkleidete Leopold. Eleazar singt für die Tischgäste das Gebet „Ô Dieu de nos pères“, Zoran Todorovich singt dies fast schmerzlich innig.

Leopold versteckt sich, als seine Ehefrau, Prinzessin Eudoxie, bei Eleazar ein Schmuckstück kaufen will. Mercedes Arcuri gibt der Prinzessin mit bravourösen Koloraturen ein kapriziöses und doch verletzliches Profil.

Rachel wird durch das merkwürdige Verhalten Leopolds mißtrauisch. Ihre Romanze „Il va venir et d’effroi“ wird dann zu einem ersten Höhepunkt, atemberaubend gesungen. ‚Samuel‘ gesteht Rachel, dass er Christ ist, sie planen die gemeinsame Flucht. Eleazar ertappt sie, ist jedoch dann bereit, seinen Segen zu geben. Aber Leopold verweigert die Hochzeit (er ist ja schon verheiratet) und Eleazar verflucht ihn. Ein schicksalhafter Ablauf wird so in Gang gesetzt, der am Ende für alle im Schrecken endet. Das Schlussterzett ist fast beängstigend emotional. Insbesondere Barno Ismatullaeva singt mit einer flammenden Intensität, die unter die Haut geht.

Ernste, dramatische und komische Stellen wechseln in diesem fast intimen Akt. Hier ist man der Moral der Geschichte ganz nah. Gruppen von Menschen definieren sich in Abgrenzung gegenüber einem vermeintlichen Feind. Die Wohnung ist ein Schutzraum, in dem versucht wird, Frieden zu finden.

Der dritte Akt spielt im farbenprächtigen Barock, wo sich die Intoleranz hinter Puder und Perücken verbirgt. Rachel ist ihrem Leopold heimlich gefolgt und trifft bei einem Fest auf Prinzessin Eudoxie.

Diese Feierlichkeit ist auch ein Fest für das Auge. Alfred Mayerhofer zeigt die manierierte Künstlichkeit des Adels in Kostümen in fast übertriebenen Pastellfarben. Eine vor Speisen und Früchten überquellende Tafel steigert noch die dekadente Farbenpracht. Aber das Bühnenbild zeigt hier auch den bösartigen Kontrapunkt. Herabhängende Vogelbauerkäfige mit Skeletten dienen zur Beleuchtung und spielen auf den Fall des Juden Joseph Süß Oppenheimer an, der nach einer Intrige zum Tode verurteilt worden war und dessen Leiche sechs Jahre lang in so einem Käfig ausgestellt worden war.

Als Eleazar das Schmuckstück vorbeibringt, fliegt Leopolds falsches Spiel auf. Rachel klagt ihn der Unzucht mit einer Jüdin an und gibt sich selbst als diese zu erkennen. Kardinal Brogni verflucht die Juden und lässt Eleazar, Rachel und Leopold festnehmen. Die höfische Gesellschaft verwandelt sich in eine geifernde Masse, die keinen Halt mehr kennt. Dieses Aktfinale trifft den Zuhörer mit unerhörter Wucht und entlässt erschüttert in die Pause.

Mit dem vierten Akt ist die Inszenierung in Spanien um 1492 angesiedelt. Die Inquisition hat das Land fest in ihrer Hand. Die Inszenierung deutet diese Zeit durch die Kostüme an.

Die Prinzessin fleht Rachel im Gefängnis an, Leopold zu retten. Mercedes Arcuri und Barno Ismatullaeva gestalteten diese Szene zweier liebender Frauen eindrucksvoll und klangstark. Rachel nimmt daraufhin gegenüber Kardinal Brogni alle Schuld auf sich. Den Kardinal ergreift Mitgefühl. Er versucht, Eleazar zum Christentum zu bekehren, um Rachel retten zu können. Eleazar geht nicht darauf ein und verkündet hasserfüllt, dass Brognis totgeglaubte Tochter noch lebt und dass er die mögliche Aufklärung mit ins Grab nehmen wird.

Es fällt Eleazar schwer, Rachel für seine Rache zu opfern. Er fleht Gott um Erleuchtung an. Seine ganze Zerrissenheit wird gezeigt, da er Rachel aufrichtig liebt. Zoran Todorovich sang diese Arie „Rachel, quand du Seigneur la grâce tutélaire“ bewegend, zu Herzen gehend. Für mich war dies der emotionale Höhepunkt des Abends.

Im fünften Akt sind wir dann in Konstanz 1414 angekommen, wo das Kirchenkonzil als großes Volksfest gegangen wird. Leopold wurde begnadigt und hat die Stadt verlassen. Das Volk ist voller Vorfreude auf den Tod der Juden. Der Hass hat die Stadt in seiner Gewalt, Gewalt und antisemitische Szenen dienen zur Belustigung.

Dieses Volksfest nimmt in seiner Parade und teilweise in den Kostümen das Fest des ersten Akts wieder auf. Die etwas albernen Mickymaus-Schergen sind wieder dabei. Elemente aus den anderen Akten mischen sich dazu. Der jüdische Junge wird auf der Festtafel des dritten Aktes tot und blutüberströmt hereingeschoben und auf eine Palette gelegt, unter Polizeiaufsicht muss das Volk daran vorbeigehen. Wir blicken dadurch vom Ende zurück in unsere Zeit, nichts hat sich geändert, Intoleranz und Hass sind nur anders angezogen. Dieses Fest und sein Schluss sind die einzigen Momente, die aus meiner Sicht etwas zu plakativ angelegt sind und wo man den erhobenen Zeigefinger zu deutlich sieht.

Brogni fleht Eleazar an, die Wahrheit über seine totgeglaubte Tochter zu sagen. Aber Eleazar ist innerlich so verhärtet, dass er dies verweigert. Rachel lehnt es ab, zum Christentum überzutreten. Sie will als Märtyrerin sterben. Sie wandelt sich so am Ende von der Liebenden zur Fanatikerin. Von den Mickymaus-Schergen geleitet springt sie in einen Glaszylinder mit kochendem Wasser. Im Moment ihres Todes verrät Eleazar, dass Rachel die Tochter des Kardinals ist. Brogni bricht zusammen.

Es ist ein Schluss, der das Herz zum Stocken bringt. Es herrschte dann auch mehrere Sekunden lang atemlose Stille, bevor der begeisterte Beifall mit Bravos und Standing Ovations losbrach.

Für die Darbietungen auf der Bühne und im Orchestergraben gibt es nur das Wort großartig.

Valtteri Rauhalammi leitete präzise und mit viel Gefühl durch die anspruchsvolle Musik mit ihrem Farbenreichtum. Das Niedersächsische Staatsorchester war ihm ein beeindruckender Partner. Riesige, komplexe Ensembles stehen neben Rezitativabschnitten mit ganz wenigen Instrumenten. Nie ist die Instrumentierung dabei übertrieben, sie lässt immer Raum. Halevys Musik erreicht mit einfachen Mitteln eine emotionale Tiefe, die beim Zuhören unmittelbar packt. Das Niedersächsische Staatsorchester spielte das alles feinfühlig, brillant und emotional. Die Musik war immer so durchsichtig, dass sich die Solisten auf der Bühne frei entfalten konnten – eine ganz große Leistung.

Der Chor in der Einstudierung von Lorenzo del Rio agierte dynamisch, präzise, klangschön und ausdrucksstark. Auch darstellerisch war er bravourös.

Die Hauptdarsteller zeigten sich im ersten Akt noch etwas zurückhaltend, aber das gab sich dann sehr schnell. Es wurde gesungen, als ob es kein Morgen mehr gäbe.

Nachdem in den vorherigen Vorstellungen Hailey Clark als Rachel begeisterte, gab heute Barno Ismatullaeva ihr Rollendebüt. Sie besitzt einen kraftvollen, dunkel getönten Sopran – es ist eine Stimme, die das Haus in Flammen setzen kann. Dazu kommt differenziertes Spiel auf der Bühne und Ausstrahlung. Mit nassen Haaren und im Bademantel kam sie zum Applaus auf die Bühne. Es lässt für die Zukunft viel erwarten, wenn ein Opernhaus zwei solcher Rachels in seinem Ensemble hat.

Zoran Todorovich warf sich voller Risikomut in seine schwierige, anspruchsvolle Rolle, füllte sie mit Leben und Klang, zeigte alle Facetten dieses zerrissenen Charakters zwischen Zartheit und Dramatik. So entstand ein Eleazar, der in jeder Sekunde glaubhaft war.

Shavleg Armasi sang und agierte sehr ausdrucksstark und füllte seine Rolle großartig aus. Einige abgrundtiefe Töne waren eine gewisse Herausforderung, in allen anderen Lagen klang seine Stimme völlig mühelos. Mercedes Arcuri sang ihre kapriziöse Rolle mit wie selbstverständlich erscheinenden, halsbrecherischen Koloraturen. Sie erweckte diese flatterhafte und doch liebende Frau zum Leben. Auch Matthew Newlin bewältigte seine mit Höchstschwierigkeiten gespickte Partie mit Mühelosigkeit und klangschöner Stimme. In den kleineren Solopartien gefielen Pavel Chervinsky und Yannick Spanier mit ihren sonoren Bässen.

Ich kann es nicht anders sagen, es war ein ganz großer Opernabend. Die Musik, die Inszenierung und die Darbietenden haben mich voll in ihren Bann gezogen. Eindrucksvolle Bildwelten trafen auf eine ausgefeilte Personenführung, all dies machte die Aufführung zu einem Ereignis. Ich hatte vorher leichte Bedenken, ob der Fall durch die Zeitalter von Akt zu Akt funktionieren würde. Er tat es, weil die Hauptpersonen gleich blieben und weil die Übergänge plausibel erschienen. Zum zweiten Akt zum Beispiel wechselte man in einen intimen Innenraum, das erklärte den Wechsel der Kostüme. Das barocke Fest des dritten Aktes machte dann den Eindruck eines Kostümfestes, auch hier war kein Bruch spürbar.

Besonders virtuos gelangen die Ensembleszenen. Das Volk wurde im Laufe der Akte zu einer fast furchteinflößenden Masse, für die das Auslöschen anderer Menschen zur enthemmten Belustigung wird.

„La Juive“ ist ein bildgewaltiges Spektakel, das seine Botschaft in Geschenkpapier verpackt und daher um so intensiver vermittelt. Keine Sekunde ist langweilig, die Zeit vergeht wie im Flug. Ich ging aus dem Opernhaus heraus, erfüllt von der Musik, bewegt, mitgerissen, zum Nachdenken gebracht. Wie viele alte Bilder haben wir alle im Kopf, die uns nicht vorurteilsfrei auf die Welt schauen lassen?

Das Fazit ist für mich ganz eindeutig: Wer La Juive“ nicht sieht und hört, der hat etwas Großartiges verpasst. Ich werde mir die Oper noch einmal anschauen, um Musik, Gesang und Inszenierung noch einmal auf mich wirken zu lassen. Es ist mir unerklärlich, dass nicht jede Vorstellung ausverkauft ist.

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