Vorstellung „Tosca“ 03.11.2019

„Tosca“ von Puccini ist ein Repertoirerenner, ein Klassiker, den fast jeder Operngänger schon mehrfach gesehen hat. Man kennt das Stück auswendig und hat seine „eingebrannten“ Erwartungen. Bei Vielen ist es fast wie in der Kindheit, in der man beim Vorlesen eines Märchens keine Abweichung vom gewohnten Text geduldet hat. Wie ist dann die Reaktion auf eine Inszenierung, die das Gewohnte hinterfragt, unterläuft oder sogar auf den Kopf stellt? Zum Abschluss der Premiere hatten sich „Buhs“ und „Bravos“ zur Inszenierung einen Kampf geliefert, auch im Internet finden sich diese Reaktionen wieder. Offenbar gestattet diese Tosca keine Halbheiten. Ich liebe solche Kontroversen, bilde mir immer mein eigenes Urteil – besonders gespannt ging ich also in die Aufführung.


Die gewohnte Handlung ist schnell erzählt.
Erster Akt: Die Sängerin Floria Tosca liebt eifersüchtig Mario Cavaradossi, einen Maler. Auch Baron Scarpia, der Polizeichef von Rom, bewundert Tosca und will sie um jeden Preis besitzen. Da Cavaradossi Cesare Angelotti, einem Anhänger Napoleons, Unterschlupf gewährt, wird er von Scarpia verhaftet. Scarpia stachelt die Eifersucht Toscas an, um an mehr Informationen zu kommen.
Zweiter Akt: Scarpia lässt Cavaradossi foltern, um Angelottis habhaft zu werden. Tosca muss dies mit anhören. Sie will ihren Geliebten schützen und geht mit Scarpia einen Handel ein. Gegen den Verrat von Angelottis Versteck erhält sie einen Entlassungsschein für Scavaradossi. Als Scarpia sie vergewaltigen will ersticht sie ihn.
Dritter Akt: Scarpia hatte Tosca eine Hinrichtung Cavaradossis zum Schein vor der geplanten Flucht versprochen. Aber dies war eine Lüge, die Hinrichtung ist echt. Tosca stürzt sich daraufhin von der Burgmauer in den Tiber.

So weit, so gut, jeder hat das verinnerlicht. Zwei Männer kämpfen in einem Reißer um eine Frau, alle sterben, es spielt in einem Polizeistaat. Was fügt der Regisseur Vasily Barkhatov hinzu, um das Stück „neu“ zu machen? Zuerst einmal stellt er Scarpia in den Mittelpunkt, er ist für diese Inszenierung die zentrale Figur. Barkhatov beschäftigt sich dann mit Antworten auf Fragen, die berechtigt sind.

Wie ist es Angelotti gelungen, zu Beginn aus dem Hochsicherheitsgefängnis Engelsburg zu entkommen?
Die Antwort findet sich im Theaterstück, das als Vorlage für das Libretto gedient hat. Die Flucht von Angelotti hat Scarpia um den Preis einer Nacht mit Angelottis Schwester ermöglicht. Im Libretto selbst findet sich nur eine Andeutung – Angelotti sagt, dass seine Schwester alles dafür gewagt hat, ihn Scarpia zu entreißen. Barkhatov übernimmt das in sein Konzept.

Wie ist Scarpia zu dem geworden, der er ist?
Die Annahme ist, das Scarpia – hier Kleriker statt Polizeichef – als Kind missbraucht wurde. Er versucht nun, sein Trauma zu verarbeiten. Er richtet seine innere Wut gegen die Welt und ist zum Psychopathen geworden. Im Libretto ist dieses Verhalten abgebildet, die Musik spiegelt es wieder. Barkhatov hat nur die Ursache dafür hinzugefügt.

Was treibt Scarpia an?
Die Antwort ist, dass Scarpia die Sängern Tosca als Künstlerin verehrt und von ihr besessen ist. Er begehrt sie fast zwanghaft. Das macht Cavaradossi zum Rivalen, den aus auszuschalten gilt. Die Verwicklung in die Flucht Angelottis bietet dazu einen guten Anlass. Auch dies lässt sich problemlos aus dem Libretto ableiten.

Was will Scarpia erreichen?
Die Annahme ist, dass Scarpia die von ihm abgöttisch verehrte Tosca dazu bringen will, seinem Leben und damit seinem Trauma ein Ende zu setzen. Dazu benutzt er die anderen Figuren des Stücks als Handlanger und macht sie zu Opfern. Im Libretto findet sich das nicht, es ist aber als psychologischer Hintergrund zumindest nicht völlig abwegig.

Da das alles recht komplex ist, werde ich mich im Folgenden an der Handlung entlanghangeln.

Der erste Akt beginnt mit einer Einleitung. Wir sehen Scarpia in seinem Büro, dabei sind Angelotti und dessen Schwester, die Marchesa Attavanti (eine stumme Rolle). Der wie in einem Stummfilm dazu eingeblendete Text (leider nicht sehr gut zu lesen) informiert uns darüber, dass die Flucht Angelottis ein abgekartetes Spiel ist, um Scarpia eine Liebesnacht mit dessen Schwester zu ermöglichen. Scarpia ist ein Mann der Kirche, dies verstärkt die Perversität dieses Vorgangs noch – der Kontrast ist erheblich höher als bei einem zivilen Polizeichef.

Scarpias Wohnung erstreckt sich über die ganze Breite der Wohnung, links ein kleines Nebenzimmer, rechts das geräumige Büro. Diese Wohnung wird nun in die Höhe gezogen, die Oper beginnt. Es öffnet sich eine Art Kirchenraum in neutralem Grau. Dieses Bühnenbild ist beeindruckend, großartig und eine technische Meisterleistung.

Cavaradossi arbeitet an einer Weihnachtskrippe, während im Hintergrund die Vorbereitungen für ein Weihnachtssingen, das spätere Te Deum, laufen. Das Libretto siedelt die Handlung im Sommer an, Weihnachten kommt nicht vor, Cavaradossi ist normalerweise Maler. Die Inszenierung wählt vielleicht deshalb Weihnachten als Handlungsanker, weil das Fest der Liebe den größtmöglichen Kontrast zur blutrünstigen Handlung bietet. Weihnachten ermöglicht auch eine gewisse Buntheit und Festlichkeit im Bühnenbild. Die Krippe mit ihrem ultramarinblauen Himmelsrund und den Sternen bildet das farbliche Zentrum im sonst grauen, eher bedrückenden Kirchenraum.

Die Handlung geht nun wie gewohnt dramatisch voran. Angelotti flüchtet in die Kirche, während sich oben im Büro seine Schwester langsam entkleidet. Der Mesner tritt auf, der einen Chorknaben dabei hat. Der Missbrauchshintergrund wird im Umgang des Mesners mit diesem Chorknaben angedeutet. Es ist ein Anfassen, ein schmieriges Streicheln, es reicht, um die Situation klarzumachen.

Cavaradossi hilft Angelotti bei der Flucht. Tosca kommt hinzu und wird wegen des geheimnisvollen Tuns eifersüchtig. Tosca ist hier eine fast kühle Frau, eine professionelle Künstlerin. Ihre einzige Schwachstelle ist die Liebe zu Cavaradossi. Die Szene endet romantisch, in der Krippe, die wie ein schützender Raum ist. Sogar die Sterne können angeschaltet werden, die Krippe ist Show, Cavaradossi ist kein echter Künstler.

Der durch den Kinderchor auftretende Scarpia entzieht dem Mesner angewidert seine Hand, ganz dezent wird so angedeutet, dass er früher ebenfalls Opfer war. Scarpia ist ein Mann der Kirche, vielleicht soll dies auch eine Brücke schlagen zur aktuellen Missbrauchsdiskussion in den Kirchen.

Scarpia kommt bei den Vorbereitungen zum Te Deum dem Geschehen um Angelotti auf die Spur und sieht so eine Handhabe, sich Toscas zu bemächtigen. Die Stimmung in diesem grauen Kirchenraum ist bedrückend trotz der Festlichkeiten – überall sind Spitzel von Scarpia postiert, Männer in grauen und schwarzen Anzügen.

Zum Finale des Aktes wird die Wohnung wieder heruntergelassen und wir sehen, wie Scarpia inbrünstig in seinen Tosca-Devotionalien schwelgt und dazu sein Anti-TeDeum singt. Er ist besessen von Tosca, er ist gleichzeitig aber auch ein Opfer, ein Verletzter. Seth Carico spielt und singt das sehr ausdrucksstark und einfühlsam.

Zu Beginn des zweiten Aktes sehen wir Scarpia und Cavaradossi zusammen mit Angelotti und der geschändeten Marchesa in Scarpias Büro. Scarpia erpresst alle dazu, bei seiner Intrige mitzumachen, dies wird dem Zuschauer wieder durch Texteinblendungen verdeutlicht. Die Folterung Cavaradossis im Nebenzimmer ist inszeniert, Tosca kann dies nicht ertragen und verrät Angelottis Versteck. Sie verrät damit auch Cavaradossi. Im Triumph lässt Scarpia seinen Rivalen verhaften und zum Tode verurteilen. Scarpia stellt Tosca vor die Wahl: das Leben Cavaradossis gegen sexuelle Hingabe. Tosca willigt voller Verzweiflung ein.

Tosca singt nun ihr „Vissi de Arte“. Scarpia gerät fast in Verzückung über so viel Gefühl, das er aus dieser sonst so kühlen, beherrschten Frau herausgelockt hat. Seth Carico spielt das so überzeugend, dass man meint, einem echten Psychopathen bei einem Spiel zuzuschauen. Liene Kinca singt die Arie präzise, mit sicheren hohen Tönen, mit viel Gefühl. Sie ersticht Scarpia, als dieser sich ihr nähern will. Solche fast an einen Liebesakt gemahnenden Morde kenne ich aus Filmen von Alfred Hitchcock. Ich musste sofort an die Mordszene aus „Sabotage“ denken.

Mit den gewählten ungewohnten Antworten funktionierte die Inszenierung in den ersten zwei Akten und gewährte neue Blickwinkel. Der dritten Akt hätte jetzt wie gewohnt ablaufen können. Die konventionelle Handlung fügt sich bruchlos in das neue Konzept ein. Aber Vasily Barkhatov setzt noch einen drauf und findet auch hier eine neue Deutungsebene.

Scarpia hat Tosca in seinem Ranzen eine DVD mitgegeben, die sie sich nun ansieht. Zur Musik des römischen Morgens mit seinen Glockenklängen und dem Hirtengesang sieht Tosca die Beichte Scarpias (eingeblendete Texte) und bekommt Aufklärung über den Missbrauch und Scarpias böses Spiel. Das Lied des Hirtenknaben – der junge Scarpia – wird von einem der Chorknaben gesungen, während der Mesner sich ihm nähert. Diese hochromantische Musik bekommt vor diesem Hintergrund eine tragische Dimension.

Der dritte Akt geht nun weiter als eine Art Halluzination. Tosca entdeckt im Nebenraum, wie Scarpia sie verehrt hat. Dort geht das Licht aus, im Büro geht es an. Wir sind wieder bei der Szene zu Beginn des zweiten Aktes, wir blenden in sie hinein. Scarpia hat alle erpresst, Cavaradossi singt nun seine große Arie „E lucevan le stelle“ – es ist seine Erkenntnis, dass er Tosca verloren hat. Wie so häufig bisher gelingt es durch kleine Tricks, den Text passend zur neuen Handlung umzudeuten. Bisher hatten Textzeilen durch ironische Körpersprache eine andere Bedeutung bekommen oder dadurch, dass sie zu einer anderen Person als gewohnt gesagt wurden. Nun werden die Worte des Schließers von Scarpia gesungen und so für diese Szene passend gemacht.

Der folgende Dialog zwischen Tosca und Cavaradossi ist dann offenbar ein Traumbild, Tosca halluziniert an der Leiche von Scarpia (der sich in Cavaradossi verwandelt hat). Die Hinrichtung findet nur durch die Erzählung Toscas statt, an der zugedeckten Leiche. Am Ende liegt dort statt des toten Cavaradossi wieder Scarpia und Tosca umarmt ihn. Er ist tot und Toscas Leben ist am Ende. Sie ist mit dem zusammen, der sie vielleicht wirklich geliebt hat. Kein Selbstmord. Die Wohnung wird nach oben gezogen, der leere Kirchenraum taucht auf, die Krippe leuchtet, Cavaradossi ist allein. Er hat sein Leben seiner Liebe vorgezogen.

Valery Barkhatov hat Ansätze gefunden, der Geschichte einen plausiblen und bewegenden Hintergrund zu geben. Es passt auch zum Libretto, Diskrepanzen im Text können immer dadurch erklärt werden, dass eine Person gerade lügt oder vollkommen in ihrer Intrige gefangen ist. Immer ist zu spüren, dass es die nicht zu befriedigende Sehnsucht nach der perfekten Liebe ist, die hinter allem steht.

Im dritten Akt hat der Regisseur dann ein bisschen überdreht und ich musste mich konzentrieren, dem roten Faden zu folgen. Ich bin nicht völlig sicher, ob ich mit meiner geschilderten Sicht richtig liege. Aber ich bewundere den Mut zum Risiko, den der Regisseur hier insgesamt gezeigt hat. Er hat sich mit der Oper ernsthaft auseinandergesetzt. Das ist spannender, als das ewig Gleiche zu wiederholen. Nachdenken schadet nicht – und Spaß hat es auch gemacht.

Als Opernbesucher „interpretiere“ ich eine Inszenierung und versuche, meinen Weg durch sie zu finden. Hier bleiben einige Fragen offen, bei denen mir auch die Texte des Programmhefts nicht helfen. Warum dieser dritte Akt als Traumgebilde? Warum Weihnachten? Warum ist Cavaradossi kein Maler mehr? Warum hat Scarpia weiße Haare? Warum ist Scarpia Kleriker? Das ist genügend Diskussionsstoff für mehrere Gesprächsrunden! Ein paar Vermutungen habe ich ja schon in den Text einfließen lassen.

Das beeindruckende Bühnenbild von Zinovy Margolin unterstützt das Regiekonzept sehr gut. Man kann durch die parallelen Handlungsräume quasi sehen, was die Personen gerade denken.

Die Kostüme von Olga Shaishmelashvili passen in ihrer unaufgeregten Schlichtheit und auch Eleganz perfekt dazu. Sie unterstützen die Atmosphäre der Zeitlosigkeit, die für diese Inszenierung kennzeichnend ist.

Am Pult stand diesmal Eduardo Strausser statt Kevin John Edusei, der die Premiere dirigiert hatte. Mit dem perfekt und hochemotional spielenden Orchester schaffte er es, dem Geschehen ein berührendes Fundament zu geben. Es gelangen beeindruckende Momente, so die Glockenszene zu Beginn des dritten Aktes oder das abgrundtief traurige Quartett der vier Celli kurz vor Cavaradossis großer Arie. Auch Chor und Kinderchor zeigten sich in ihrem Auftritt sehr stimmungsvoll, ausdrucksstark und spielfreudig.

Für eine solch komplexe Inszenierung sind nicht nur erstklassige Stimmen, sondern auch Schauspieler gefragt. Besonders hervorzuheben ist hier Seth Carico, der den Scarpia mit einer anrührenden Verletzlichkeit spielte. Hier wird kein sonst üblicher überzeichneter Bösewicht gezeigt, sondern ein Mensch, der selbst Opfer ist. Dazu passt die eher helle Stimmfärbung, die nicht abgrundtief dunkel ist. Es ist ein anderer Scarpia als gewohnt. Mich überzeugte Seth Carico mit seinem Gesang und seiner Deutung auf ganzer Linie.

Liene Kinca begann im ersten Akt inszenierungsbedingt als eher kühle Tosca, steigerte sich aber dann in wahre Gefühlsausbrüche hinein. Ihre klangschöne Stimme bewältigte die dramatischen und die zarten Stellen der Rolle hervorragend.

Rodrigo Porras Garulo begeisterte als Cavaradossi mit seinem klangschönen Tenor. Die lyrischen Passagen waren wirklich lyrisch schön, die Höhen kraftvoll. Gut gefiel mir, wie jugendlich seine Stimme klingt. Zu diesem Rollenkonzept hätte kein ältlich klingender Tenor gepasst.

Auch alle weiteren Figuren waren gut besetzt und überzeugten. Richard Walshe war ein ausdrucksvoller Angelotti, Frank Schneiders ein beeindruckender, schmieriger Mesner. Auch die kleineren Partien (Spoletta Uwe Gottswinter, Sciarrone Nils Sandberg, Hirtenknabe Ben Walz) gefielen. Leonie Jannack in der stummen Rolle der Attavanti gab dieser Frau etwas anrührend Verletzliches.

Es war ein eindrucksvoller Opernabend mit viel Stoff zum Diskutieren. Über das Konzept kann man streiten. Es ist aber gut, dass man über ein Stück wie Tosca endlich mal wieder streiten kann. Man denkt zu selten über den Kern von Dingen nach, die man zu gut kennt. Es ist eine Inszenierung, die man gesehen haben sollte.

Hans-Joachim Riehn

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